20 Jahre Manifest für Agile Softwareentwicklung – Warum weniger mehr ist

Seit 20 Jahren gibt es nun bereits das „Manifest für Agile Softwareentwicklung“. Eine Sammlung von vier Wert-Paaren, basierend auf zwölf Prinzipien, die um die Welt gehen und unsere Arbeitsprozesse verändern sollten. 2001 ziehen sich, laut Legende, siebzehn Pioniere der Softwareindustrie auf eine einsame Ski-Hütte in den Bergen von Utah zurück und kehren mit dem Manifest zurück, um der Welt bessere Wege der Softwareentwicklung zu zeigen. Unter diesen Pionieren waren auch „Extreme Programming (XP)“ Begründer Kent Beck und die Väter von „Scrum“ Ken Schwaber und Jeff Sutherland. Im Jahre 2021 ist „Agile“ bereits ein geflügelter Begriff und zahllose Firmen befinden sich neben der digitalen auch in der agilen Transformation, nutzen Methoden und Framework wie Kanban oder „Scrum“ oder deren Weiterentwicklungen für große Unternehmensstrukturen wie „SAFe“ oder „LeSS“. Führungskräfte üben sich in „Servant Leadership“, lateraler Führung, „Tribal Leadership“ oder versuchen sich im neuen Vokabular des „Spotify-Modells“. Wer heute nicht „agil“ ist und in „Tribes“ arbeitet ist bereits abgehängt im Kampf um die wichtigste Ressource: den Mitarbeitern. Galt vor wenigen Jahren ein Obstkorb und ein stets aufgefüllter Kühlschrank mit Erfrischungsgetränken als progressiv, so gelten diese Dinge heute bereits als Standard. Während Unternehmen sich in kreiselförmigen Bewegungen um sich selbst drehen, schier endlose Heerscharen von zertifizierten Beratern, Coaches und Trainern durchs Land streifen, suchen alle händeringend nach den Fachkräften der Neuzeit, den „Scrum Mastern“, „Product Ownern“ und Softwareentwicklern, die die steigende Nachfrage auf dem digitalen Markt mit immer neuen Iterationen befriedigen sollen. All dies bleibt nicht unbemerkt unter den angrenzenden Abteilungen oder den angrenzenden Branchen und das Modell „Agilität“ schafft es mittlerweile auch die Arbeitswelten in Marketing- und Finanzabteilungen gleichermaßen zu verändern wie in handwerklichen Betrieben, KiTas oder Krankenhäusern. „Agilität“ hat sich vom Skalpell für komplexe Softwareprojekte zum Breitschwert für jegliche Art der Zusammenarbeit weiterentwickelt. 

Durch diesen Trend entstand eine Industrie der Berater und ihrer Frameworks, in der die vermeidlich Wissenden, den vermeintlich Unwissenden dabei helfen komplexe Systeme in Ihren Organisationen zu etablieren. Auch für Ihre Organisation gibt es ein Modell, eine Vorgehensweise, ein Framework, das zu Ihnen passt. Die Einführung ist für uns Profis eine einfache, wiederkehrende Aufgabe. Denn die großen Frameworks bieten Orientierung und ein Ziel bei der Transition von einem Unternehmen mit klassischen Strukturen, zu einem Unternehmen mit Strukturen, die agiles Arbeiten ermöglichen. Dennoch können sie maximal einen Grundstein für den wahren agilen Wandel legen. Viel zu oft scheitern diese Transitionen daran die Menschen mitzunehmen, agile Zusammenarbeit, sowie deren Vorteil zu erklären und erlebbar zu machen. Welche Prinzipien und Mechaniken diesen Frameworks zu Grunde liegen ist den Menschen, die darin arbeiten sollen, oft nicht klar und lassen diese ratlos zurück. Gleiches gilt leider auch oft für die vermeintlich Wissenden Berater, die bereits nach kurzem Studium einschlägiger Literatur von Ihrem Verständnis der Materie überzeugt sind. Auch unter dem Dunning-Kruger-Effekt bekannt. Die Komplexität der Veränderungen im eigenen Unternehmen und in den Abläufen überlagert die Komplexität der eigentlichen Tätigkeit. Dies verhindert das Erreichen der übergeordneten Ziele. Was dazu führen kann, dass die unbürokratische, leichtgewichtige Art der Zusammenarbeit nicht als jene empfunden wird und „Agilität“ als negativer Sammelbegriff für jede Art von Veränderung oder als etwas „was abseits der IT nicht funktioniert“ wahrgenommen werden kann. Um die Arbeitswelt weiterhin positiv zu verändern und von den Vorzügen agiler Arbeit zu überzeugen lohnt es einen Schritt zurückzutreten und sich auf den Kern hinter „Agile“ zu fokussieren, die gigantische, für sich selbst genommen komplexe, Maschinerie der Systeme und Zertifizierungen hinter sich lassend. 

Modern Agile

2015 entwickelt, ein in der agilen Community nicht unbekannter, Joshua Kerievsky „Modern Agile“. Es begreift sich als Weiterentwicklung des Manifests und ist gleichzeitig eine Reduktion auf das Wesentliche, auf den Menschen. Die Essenz, wenn man so will. Beschrieben werden vier Prinzipien, die modernes agiles arbeiten widerspiegeln und gleichzeitig stets als wiederkehrende Reflexionsfläche für kontinuierliche Verbesserungen dienen. 

Make People Awesome

Geben Sie den Menschen mit Hilfe Ihrer Produkte und Dienstleistungen das Gefühl großartig zu sein. Dazu sollte man zunächst genau verstehen, was die Menschen, die Ihre Produkte und Dienstleistungen nutzen, bewegt. Welche Probleme sie zu lösen versuchen und wie sie dabei einfach und effektiv unterstützt werden können. Wenn man dieses Prinzip ernst nimmt, hat das weitreichende Konsequenzen. Die Kommunikationswege und Feedbackzyklen können nicht kurz genug sein, Arbeitsmaterial und Kosten dürfen keine Hindernisse darstellen und dies ist erst der Anfang. 

Make Safety a Prerequisite

Um Lösungen für komplexe Problemstellungen zu finden, sollte man gut mit Ungewissheit umgehen können. Dazu gehört auch anzuerkennen, dass Versuche schiefgehen, Ideen scheitern und Fehler passieren können. Wenn bereits vorher alles bekannt wäre, würden wir schließlich nicht agil, sondern mit einem Plan, ähnlich der Bauanleitung zu einem IKEA Stuhl, arbeiten. Damit wir bei der Findung der Lösung nicht aus Angst vor Fehlern zu Schockstarre gefrieren, sondern möglichst schnell, viele, falsche Lösungen ausschließen können, benötigen wir ein Umfeld in dem Fehler keine negativen Konsequenzen haben. Neben realen, physischen Aspekten wie Arbeitsschutz, Helme, Sicherheitsnetze und dergleichen spielen hier auch prozessuale und psychologische Vorkehrungen eine Rolle. Um Fehler schnell zu erkennen, kann man beispielsweise wie in „Scrum“ die Iterationsdauer kurz oder das Experiment klein halten. Um die Bereitschaft für Experimente und das Zulassen von Fehlern zu stärken ist es wichtig die psychologische Sicherheit zu stärken. Fehler dürfen nicht zu „Fingerpointing“ und damit verbundenen negativen Konsequenzen für Einzelne führen. Die Fehlerkultur sollte vielmehr darauf abzielen Fehler als eine Möglichkeit des Lernens zu begrüßen und zu feiern. Das Gleiche gilt für das Zulassen von Feedback. 

Experiment & Learn Rapidly

Kontinuierliches Lernen und Weiterentwicklung gilt nicht nur für uns als Personen, sondern auch in Bezug auf die Möglichkeiten von Technologie, unseres Produktes, unserer Dienstleistung und vor allem anderen auf unser Verständnis vom Kunden. Stillstand bedeutet Rückschritt und um auch in Zukunft unseren Kunden das Gefühl der Großartigkeit geben zu können, sollte man stets experimentieren und lernen. Experimentieren ist hier ein bewusst gewählter Begriff, da dies die Möglichkeit des Scheiterns einschließt. Auch aus gescheiterten Experimenten können wir viel lernen. Damit dies einfach und schnell geschehen kann, ist es wichtig ein Umfeld zu schaffen in dem Experimente schnell und einfach aufgesetzt und durchgeführt werden können. Darüber hinaus sollten alle Prozesse und Systeme darauf ausgerichtet sein, das Lernen zu optimieren. Darunter sind beispielsweise Datenanalysen, Feedbackzyklen und weitere Betrachtungsweisen zu verstehen. Ob Sie nun Tracking etablieren oder als Reflexionsprozess den Popcornflow nutzen, nutzen Sie alle Möglichkeiten Informationen heranzuziehen und verschiedene Betrachtungsweisen einzunehmen.  

Deliver Value Continuously

Unabhängig davon wie gut eine Lösung für ein Kunden- oder Mitarbeiterproblem sein mag, sie kann erst mit der Inbetriebnahme überhaupt beginnen Nutzen zu schaffen. Ein neues Produkt oder ein neuer Service sind bis zum Moment der ersten Nutzung also weitgehend wertlos. Um dieses Risiko zu reduzieren, brauchen neue Ideen so bald wie möglich den Kontakt mit der „echten“ Welt, um früh und fortlaufend durch Kundenkontakt weiterentwickelt werden zu können. Ein einfaches Produkt im Markt ist einem mächtigen Produkt auf dem Papier vorzuziehen.

„Modern Agile“ bietet eine Möglichkeit abseits von Beratern, Frameworks und Zertifizierungen agiles Denken unabhängig von Branche oder Disziplin in jedes Unternehmen, in jeden Verein, auf jeden Campus und in jeden Haushalt zu bringen. Wenn man sich selbst stets reflektiert und an diesen vier Prinzipien arbeitet, kommt man auch ohne großes Framework ans Ziel. 

Heart of Agile 

Alistair Cockburn, einer der Mitunterzeichner des ursprünglichen Manifestes, entwickelt 2019 „Heart of Agile“. Im Gegensatz zu „Modern Agile“ sieht sich das „Heart of Agile“ nicht als Weiterentwicklung des Manifestes, sondern als eine Rückbesinnung, auf das Wesentliche des Manifestes. Es bietet weniger einen Zielzustand und eine Reflexionsfläche als konkrete Handlungsanweisungen an. Auch das „Heart of Agile“ baut auf die einfache Logik der vier Prinzipien.

Collaborate

Bei komplexen Problemstellungen hilft die Arbeit in heterogenen Teams vielfältigere Lösungsansätze zu erarbeiten und führt somit schneller zum Erfolg. Darum ist es notwendig als ein Team zusammenzuarbeiten und gut zu kommunizieren.

Deliver

Das Einführen einer Veränderung erfolgt idealerweise iterativ und in kurzen Abständen. So kann zum einen schneller Mehrwert gegenüber dem Kunden ausgeliefert werden. Zum anderen schneller ein besseres Verständnis über die möglichen Lösungen gewonnen werden. Kleinere Veränderungen helfen zudem die Komplexität besser zu durchdringen und flexibel Änderungen vorzunehmen. 

Reflect 

Wie im agilen Kontext üblich, sollte regelmäßig eine Reflexion stattfinden, um herauszufinden was man aus der Kollaboration und den Einführungen gelernt hat.

Improve

Es gibt immer Potenzial zur Verbesserung: Man kann die Richtung einer Idee, ihre technische Implementierung und die internen Prozesse immer wieder anpassen.

Fazit

Während wir in „Modern Agile“ ein Zielbild für die agile Welt erhalten, so erhalten wir im „Heart of Agile“ einen Leitfaden auf den Weg dahin. Gemeinsam haben beide Modelle, dass sie sich zurückbesinnen auf vier einfache Prinzipien und sich loslösen vom derzeitigen Selbstzweck und der kontinuierlichen Selbst-Transformation hin zu mehr zielgerichteter inhaltlicher Arbeit. Durch die kontinuierliche Anwendung dieser vier Aspekte der Agilität von jedem beteiligten Individuum erhöhen wir die Selbstorganisation und damit die Flexibilität und Geschwindigkeit in der gesamten Unternehmung. Ganz nebenbei erobern wir uns unsere natürlichen Lern- und Zusammenarbeitsmechanismen aus Kindertagen zurück. Denn Kooperation und iteratives lernen anhand von Experimenten sind fest in unserer DNA verankert und werden leider nur allzu oft durch die Gesellschaft abtrainiert. Große Frameworks hingegen versuchen diese Rückverwandlung durch Regeln und Gleichschaltung im großen Stil innerhalb kürzester Zeit zu erreichen. Durch die erzwungene Synchronizität und der kurzen Abstimmungsintervalle wird die Agilität der Organisation zwar erhöht, nicht aber das Verständnis für agile Mechanismen oder das „Empowerment“ für mehr Selbstorganisation. Es ist also eine Frage der Philosophie: Möchte man einen schnellen Wandel zu einer etwas agileren Organisation oder verfolgt man den Weg des Kung Fu. Ein in Teilen vielleicht zunächst langsamerer Ansatz zur agilen Organisation, dafür aber mit einem tieferen Verständnis und der Möglichkeit zu weiterem agilem Wachstum. 

Sie wissen, Sie müssen sich verändern, aber wo anfangen?

Versuchen Sie als erstes Experiment doch mal Ihre Lieferzeiten zu verkürzen oder reflektieren Sie mit Hilfe einer Retrospektive, wo Sie aktuell stehen. Wir wissen Sie haben keine Lust auf das übliche Berater Bla Bla und freuen uns gerade deshalb, wenn Sie sich bei uns melden. Wir hören Ihnen gerne zu und versuchen stets pragmatische Lösungen zu finden, ohne zu werten oder unsere Namen zu tanzen. Obwohl … sollten Sie mal probieren: Experiment & Learn Rapidly.  

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