Wie können Transformationen nachhaltig gelingen? Um diese Frage zu beantworten, lohnt sich ein Blick auf den kleinsten Baustein einer Organisation. Dem Individuum. Genauer gesagt mit dem Selbst. Denn unser Einflussbereich endet mit uns selbst. Unser eigenes Verhalten zu reflektieren und zu verändern, ist bereits schwer genug. Das kann vermutlich jeder Bestätigen, der sich bereits an Neujahrsvorsätzen abgearbeitet hat, oder im neuen Job so richtig durchstarten wollte und oft bereits nach kurzer Zeit zurück in alte Muster und Gewohnheiten verfällt. Veränderung bedeutet Einsatz von Energie und verursacht zuweilen „Schmerzen“. Alle Organismen und Individuen auf diesem Planeten unterliegen jedoch dem Effizienz-Prinzip. Unser Körper und unser Geist mögen den stetigen Gleichklang und Fluss, abseits der Veränderung und der Energieverschwendung. Wie können wir also erwarten, dass es innerhalb einer Organisation mit einer 6-monatigen Transformationsphase getan ist? Das können wir nicht. Veränderung muss ein Prozess sein und beginnt bei den eigenen Gewohnheiten.
James Clear, Author des Buches „Atomic Habits“, zu deutsch „Die 1 % Methode“, sagt, dass wir durch unsere Gewohnheiten und unser Handeln definiert werden. Wir sind also was wir tun. Selbst kleine Veränderungen können, wenn sie kontinuierlich stattfinden, unser Leben verändern und den Unterschied ausmachen. Wenn wir also jeden Tag nur 1 % besser werden in einer bestimmten Sache, so wären wir am Ende eines Jahres 37-mal so gut wie zuvor und das bei einem vermeintlich minimalen Einsatz von Energie*. Dazu muss man aber auch verstehen, wie Veränderungen funktionieren und warum so viele gute Vorsätze scheitern.
Die Grundlagen
Das menschliche Gehirn funktioniert stark nach dem Belohnungsprinzip und scheut die Peitsche im Sinne des Energieeinsatzes. Wenn wir nun also all unsere Motivation zusammennehmen und Energie und Einsatz in unsere Vorsätze stecken, erwarten wir schnelle und lineare Ergebnisse. Nach dem Sport müssen die Kilos sofort purzeln, nach dem Anschauen von dreißig YouTube Videos muss man ein Profi in Algebra und KI sein. Diese Erwartungen sind überzogen und entsprechen nicht der Realität. In Wirklichkeit gleicht die Veränderung eher einer exponentiellen Kurve. Die Veränderungen sind zu Beginn sehr gering und kaum sichtbar, bis zu dem Punkt an dem sie schlagartig ansteigen und die Erwartungen übertreffen. Denn wer weiß schon wirklich, was er alles nicht weiß zu einem bestimmten Thema. Die Phase der geringen Veränderung wird gerne das Tal der Enttäuschung genannt und führt oft zur Frustration und dem Rückfall in alte Verhaltensmuster. Diese Enttäuschung fällt umso drastischer aus, umso mehr Energie und Einsatz wir in die Erreichung unserer Ziele gesteckt haben. Aber hier bewahrheitet sich erneut der Spruch, dass zwei Mütter ein Kind nicht in 4 1/2 Monaten gebären können oder das Gras auch nicht schneller wächst, wenn man daran zieht.

Ein weiterer Aspekt, warum viele Transformationen nicht nachhaltig sind, ist die Fokussierung auf Zielen. Ziele sind zwar etwas sehr Konkretes und Greifbares, sie definieren genau was wir zu tun haben um diese zu erreichen, aber Ziele sind oft nur ein kleiner Moment auf dem Zeitstrahl. Was passiert, nachdem wir dieses Ziel erreicht haben? Ziele erzeugen zudem eine Sieg- oder Niederlagensituation. Was passiert, wenn wir unser Ziel nicht erreicht haben? Ziele definieren nicht was oder wer wir sein wollen. James Clear macht deutlich, dass Ziele keine schlechte Sache sind, sie zeigen die Richtung auf und bilden konkrete Meilensteine. Systeme hingegen fokussieren auf den Prozess. Auf die Art und Weise wie wir Dinge tun. Auf unsere Gewohnheiten, die definieren wer wir sind. Schmeißen wir oft achtlos Papier oder anderen Müll auf den Boden sind wir ein Umweltverschmutzer. Wenn wir aber jemand sein wollen, der sein Möglichstes tut um mit der Natur im Einklang zu leben, bestimmt dies auch unser Handeln. Wir sollten uns also nicht auf das Ziel fokussieren einen Marathon laufen zu wollen, sondern darauf ein Läufer zu werden. Jemand der Spaß am Sport und regelmäßigen Laufen hat und daher auch Marathons läuft. Wir hören also auf uns auf das Ergebnis zu konzentrieren und beginnen damit unsere Identität zu schärfen und neue Routinen zu etablieren.
Der Habit Loop
Laut Clear durchlaufen unsere Gewohnheiten einen ständigen Zyklus von Auslöser, Verlangen, Reaktion und Belohnung. Dieser Ablauf erzeugt ein schnelles positives Feedback und verfestigt sich nach etlichen Durchläufen zu Automatismen und Gewohnheiten.

Auslöser: Sie gehen am Abend am Süßigkeitenschrank vorbei Richtung Couch.
Verlangen: Jetzt gemütlich etwas Süßes gönnen.
Reaktion: Sie nehmen sich die Süßigkeiten mit vor den Fernseher. Belohnung: Zucker entfacht viele kleine Feuerwerke in Ihrem Hirn und schüttet Endorphine aus.
Auslöser: Ihr Team kann eine angekündigte Deadline nicht halten.
Verlangen: Sie möchten unbedingt Ihre Zusagen halten und nicht wortbrüchig werden.
Reaktion: Sie ordnen Überstunden an.
Belohnung: Sie halten die Deadline und können Ihre Zusagen einhalten.
Hier sehen wir Beispiele für negative oder ungewollte Automatismen. Es gibt aber auch Beispiele für positive und daher gewollte Automatismen.
Auslöser: Sie sind müde und wollen ins Bett gehen und suchen zuvor das Bad auf.
Verlangen: Sie möchten sich vor dem zu Bett gehen die Zähne putzen.
Reaktion: Zähne putzen.
Belohnung: Sie haben Ihre Routine absolviert, ein frisches Gefühl im Mund und können beruhigt schlafen gehen.
Wir wissen nun also folgende Dinge:
- Menschen sind von Natur aus resistent gegen Veränderungen, da diese Energie bedürfen.
- Veränderungen brauchen Zeit und Geduld, um nachhaltig zu wirken.
- Der Fokus auf die gewünschte Identität bestimmt unsere Gewohnheiten und wirkt nachhaltiger als der Fokus auf Ziele.
- Unsere Gewohnheiten festigen sich durch den stetigen Durchlauf des Habit Loops.
Die Regeln
Wenn wir neuen Gewohnheiten etablieren und alte Gewohnheiten ablegen wollen, können wir uns nun diesen gewonnenen Erkenntnissen bedienen. James Clear hat hierzu 4 Regeln aufgestellt, die uns dabei helfen können.
§1 Unübersehbar
Du möchtest ein Sportler oder Musiker oder Programmierer sein? Dann sollte Deine Umgebung diese Einstellung auch widerspiegeln. Geräte, Instrumente, Computer, Vorbilder. Halte Dir selbst stets vor Augen, was Du sein möchtest und erinnere Dich kontinuierlich daran. Richte Dir für jede Tätigkeit oder Gewohnheit eine Zone ein und konstruiere Wenn-Dann-Abläufe. Zum Beispiel könntest Du zu Beginn jeder Mittagspause Deine Gitarre schnappen und 2 Minuten üben. Für ungeliebte Gewohnheiten gilt natürlich das Gegenteil. Verbanne alles, was Dich an diese ungeliebten Dinge erinnert und Dich triggern könnte.
§2 Attraktiv
Verknüpfe Deine neuen Gewohnheiten mit Belohnungen. Nach dem Sport darf man vielleicht auch zum leckeren Burger greifen. Nachdem man die ungewollte Rufbereitschaft übernommen hat, darf man auch mal einen Tag in der Woche freihaben. Überlege Dir, wie Du Deine neuen Gewohnheiten für Dich attraktiv gestalten kannst. Nach dem Schreiben eines Blogbeitrags gönnst Du Dir eine Stunde Freizeit auf dem Basketballplatz. Umgekehrt gelten für die ungewollten Gewohnheiten Strafen oder der Entzug von Privilegien.
§3 Einfach
Da unser Gehirn Energieeinsatz scheut, müssen wir es uns so einfach wie möglich machen neue Gewohnheiten zu etablieren. Steht das Sportgerät bereits im Wohnzimmer neben dem Fernseher, haben wir es nicht nur die ganze Zeit im Blick, sondern auch schnell im Betrieb. Gleiches gilt für das Musikinstrument neben dem Schreibtisch oder der gepackten Sporttasche im Auto. Auf der Arbeit sind Whiteboards, Post-Its und Stifte nicht weit.
Auch hier ist Wiederholung der Schlüssel. Je öfter wir etwas tun, desto leichter fällt es uns. Daher kommt es vor allem auf die Kontinuität und weniger auf die Intensität an. Wenn man ein Programmierer sein möchte, muss man regelmäßig programmieren. Fangen Sie klein an. Sagen Sie sich selbst, diese Woche werde ich dreimal für 15 Minuten programmieren. Damit setzen Sie die Hürde so niedrig, dass es leicht fällt diese Gewohnheit zu etablieren. Da Sie diese Dinge ja an und für sich gerne tun, werden Sie feststellen, dass Sie oft deutlich länger und öfter mit Ihrer neuen Gewohnheit beschäftigt sind als Sie es zunächst angenommen haben. Das wichtigste ist die, Trägheit zu überwinden und kontinuierlich daran zu arbeiten.
Wenn Sie Gewohnheiten ablegen wollen, sollten Sie darauf achten, die Wiederholungen zu reduzieren und Automatismen zu unterbrechen. Jede Zigarette, die Sie jetzt gerade nicht rauchen, ist eine gute Zigarette. Machen Sie es sich schwer und ungemütlich. Vielleicht kaufen Sie erst gar keine Süßigkeiten ein, oder lassen die Lizenz für Microsoft Project einfach auslaufen. Verstecken Sie Zigaretten ganz oben auf der Schrankwand und zwingen sich dazu nur draußen zu rauchen.
§4 Befriedigend
Während die ersten drei Regeln dazu führen sollen, dass Sie schnell, einfach und kontinuierlich Ihre neuen Gewohnheiten beginnen, sorgt Regel 4 dafür, dass Sie gerne zurückkehren und sie wiederholen. Belohnen Sie sich für Ihre positiven Gewohnheiten und bestrafen Sie Ihre negativen Angewohnheiten. Machen Sie sich selbst transparent, wie Ihre Serien verlaufen und wann Sie erfolgreich waren. Reflektieren Sie, wo und wie Sie sich noch verbessern können und feiern auch mal ihren Fortschritt.
Wenn wir alle vier Regeln anwenden, können wir spielend neue Gewohnheiten etablieren. Wir machen die Auslöser unübersehbar, lösen durch attraktive Gewohnheiten ein positives Verlangen aus, können schnell und einfach reagieren und belohnen uns am Ende.
Als Rennrad Dude habe ich vielleicht mein Fahrrad über der Couch hängen und Poster von Eddie Merck an der Wand. Beim Radfahren habe ich vielleicht immer die Zeit und Möglichkeit mir meinen Lieblingspodcasts anzuhören. Die Radsachen liegen immer bereit und notfalls geht’s nur für zwei Minuten auf die Rolle oder für zwei Runden um den Block. Am Ende kann man eine neue Kerbe im Habit Tracker machen und sich auf das Abendessen freuen.
Unternehmenstransformationen mit der 1 % Methode
Übertragen auf eine Organisation bedeutet dies eben auch, dass Veränderungen Zeit und Geduld benötigen. Identifizieren Sie welche Art von Unternehmen Sie eigentlich sein wollen und erst im zweiten Schritt welche Gewohnheiten dazu passen und welche bestehenden Gewohnheiten Sie loslassen sollten. Wenn Sie eine agile Firma sein wollen, fangen Sie vielleicht klein an und beginnen mit einer einfachen Sache wie dem täglichen Stand-up. Machen Sie es durch eine prominente und speziell darauf ausgerichtete Stelle unübersehbar. Sorgen Sie dafür, dass es sich lohnt. Beispielsweise erfahren die Teammitglieder nicht nur wer an was gerade arbeitet, sondern lernen Ihre Kollegen auch menschlich etwas besser kennen oder teilen Sie Unternehmensinformationen nur an dieser Stelle. Durch die Organisation und Dauer des Dailys können Sie es möglichst einfach gestalten. Wiederholung ist der Schlüssel. Machen Sie sich bewusst, dass Veränderungen Zeit brauchen und in Baby-Steps stattfinden. Tracken Sie wie oft das Daily stattgefunden hat oder wie sich die Stimmung in Ihrem Team verändert und belohnen sich als Team für tolle Leistungen.
Hier gibt es noch eine tolle Videozusammenfassung bei YouTube zum Buch zu finden. Falls Sie noch Fragen haben oder Unterstützung bei der Anwendung von Atomic Habbits in Ihrer Organisation haben, zögern Sie nicht und nehmen gerne Kontakt zu uns auf.
* Relativ zum derzeitigen Kenntnisstand kann natürlich je nach individueller Fähigkeit die Möglichkeiten der Weiterentwicklung verlangsamt oder begrenzt sein.